BAG: Berücksichtigung der Rentennähe bei betriebsbedingten Kündigungen

BAG, Urteil von 08.12.2022, Az. 6 AZR 31/22

Betriebliche Veränderungen oder finanzielle Krisen sorgen nicht selten dafür, dass der Abbau von Arbeitsplätzen für den Arbeitgeber unumgänglich wird. Der Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen bringt jedoch einige Tücken mit sich. Werden im Betrieb regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt, ist auf Arbeitsverhältnisse mit einem Bestand von mehr als sechs Monaten das Kündigungsschutzgesetz (KSchG) anzuwenden. Dieses erlaubt eine betriebsbedingte Kündigung nur nach einer vorherigen Sozialauswahl. § 1 Abs. 3 KSchG macht hierbei klare Vorgaben, welche Kriterien bei der Sozialauswahl zu berücksichtigen sind:

  • Dauer der Betriebszugehörigkeit,
  • Lebensalter,
  • Unterhaltspflichten,
  • Schwerbehinderung.

In der Praxis hat sich die Erstellung von Auswahlrichtlinien nebst Punkteschemata als hilfreich erweisen. Bei der Gewichtung der Kriterien kommt dem Arbeitgeber dabei ein gewisser Entscheidungsspielraum zu, welcher von den Gerichten nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden kann.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat nun darüber entschieden, inwieweit bei der Gewichtung des Lebensalters die Nähe zum Renteneintrittsalter negativ bewertet werden darf.

Sachverhalt

Die Klägerin war seit 1972 als Sachbearbeiterin Vertriebslogistik beschäftigt. Sie wurde 1957 geboren und ist verheiratet. Für sie bestand ab dem 01.12.2020 die Möglichkeit, Altersrente für besonders langjährige Versicherte zu beziehen. Am 01.03.2020 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt. Dieser beschloss im Rahmen eines Interessenausgleiches mit dem Betriebsrat den Abbau von insgesamt 61 von 396 Stellen. Von den fünf Stellen im Bereich Vertriebslogistik, in welchem die Klägerin tätig war, sollte eine wegfallen. Nach erfolgter Sozialauswahl erklärte der Insolvenzverwalter der Klägerin mit Schreiben vom 27.03.2020 die Kündigung zum 30.06.2020.

Im Folgenden wurde im Rahmen eines weiteren Interessenausgleichs die stufenweise Kündigung sämtlicher Arbeitsverhältnisse auf Grund der vom Gläubigerausschuss beschlossenen Betriebsstillegung bis zum 31.05.2021 vereinbart. Aufgrund dessen wurde der Klägerin vorsorglich erneut zum 30.09.2020 gekündigt.

Die Klägerin wandte sich mit ihrer Kündigungsschutzklage gegen beide Kündigungen.

Die erste und zweite Instanz gaben der Klägerin Recht.

Entscheidung

Das BAG entschied, dass die erste Kündigung zum 30.06.2020 das Arbeitsverhältnis nicht beendet hat, allerdings die zweite Kündigung zum 30.09.2020 wirksam ist.

Gem. § 125 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer nach § 1 Abs. 3 KSchG nur bezüglich der Dauer der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltspflichten und auf grobe Fehlerhaftigkeit nachgeprüft werden. Die Auswahl wurde dann grob fehlerhaft getroffen, wenn sie jede soziale Ausgewogenheit vermissen lässt oder ein so schwerer Fehler vorliegt, dass dieser sofort ins Auge springt. Die Auswahlentscheidung war nicht allein deswegen fehlerhaft, weil die Rentennähe der Klägerin negativ für diese berücksichtigt wurde. Die Betriebsparteien dürfen zu Lasten des Arbeitnehmers bei der Sozialauswahl auch berücksichtigen, dass dieser die Möglichkeit hat, innerhalb von zwei Jahren nach dem voraussichtlichen Ende des Arbeitsverhältnisses die Regelaltersrente oder andere Renten wegen Alters abschlagsfrei zu beziehen. Dies gilt allerdings nicht für Altersrenten für schwerbehinderte Menschen nach §§ 37, 236a SGB VI. Das Kriterium des Lebensalters soll dabei dem Umstand gerecht werden, dass mit zunehmendem Alter die Chance deutlich sinkt, eine neue Beschäftigung zu finden und sich so eine Einkommensquelle zu sichern. Dieses Kriterium verliert, so das BAG, jedoch deutlich an Aussagekraft, je näher der Arbeitnehmer dem Renteneintrittsalter kommt. Daher darf in einer Vergleichsgruppe zwischen Arbeitnehmer auch berücksichtigt werden, welchen Arbeitnehmern durch zeitnahen Renteneintritt eine finanzielle Absicherung zukommt. Zu beachten ist, dass mit der Rentennähe kein zusätzliches Auswahlkriterium geschaffen wird. Dies wäre nicht mit § 1 Abs. 3 KSchG vereinbar. Jedoch darf die Rentennähe negativ bei der Gewichtung des Merkmals „Lebensalter“ berücksichtigt werden. Keine Rentennähe ist hingegen anzunehmen, wenn der betroffene Arbeitnehmer innerhalb von zwei Jahren nach dem in Aussicht genommenen Ende des Arbeitsverhältnisses eine (vorgezogene) Altersrente vorzeitig und daher nur mit Abschlägen in Anspruch nehmen kann.

Im vorliegenden Fall war die erste Kündigung jedoch fehlerhaft, weil das Kriterium der Betriebszugehörigkeit nur unzureichend bewertet wurde. Anzumerken ist zudem, dass im Falle einer Betriebsschließung, bei der alle Arbeitsverhältnisse gekündigt werden, keine Sozialauswahl nötig ist. Aus diesem Grund hat die zweite Kündigung das Arbeitsverhältnis wirksam zum 30.09.2020 beendet.

Die Entscheidung des BAG finden Sie hier.

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