BAG: Arbeitgeber zur systematischen Arbeitszeiterfassung verpflichtet

BAG, Beschluss vom 13.09.2022, Az.: 1 ABR 22/21

Mit Beschluss vom 13.09.2022 hat das Bundesarbeitsgericht eine Grundsatzentscheidung zum Arbeitszeitschutz getroffen. Ausgehend von der eigentlichen Frage, wie weit das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Einführung von technischen Einrichtungen zur Überwachung der Arbeitnehmer reicht, hat das Bundesarbeitsgericht – für alle Beteiligten recht überraschend – entschieden, dass Arbeitgeber bereits von Gesetzes wegen die Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer systematisch erfassen müssen. Entscheidend waren hierbei nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts europarechtliche Vorgaben.

Sachverhalt

Der Betriebsrat einer von zwei Arbeitgeberinnen gemeinsam betriebenen vollstationären Wohneinrichtung im Rahmen der Eingliederungshilfe verhandelte 2017 und 2018 mit den Arbeitgeberinnen über den Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung. Eine Einigung blieb allerdings aus. Obwohl die Arbeitgeberinnen die notwendige Ausstattung zur Zeiterfassung bereits erworben hatten, beschlossen sie, von der Einführung der ursprünglich geplanten elektronischen Arbeitszeiterfassung abzusehen.

Der Betriebsrat bemühte sich jedoch weiter um die Einführung einer solchen elektronischen Zeiterfassung und beantragte diesbezüglich die gerichtliche Einsetzung einer Einigungsstelle. Nach zwei für den Betriebsrat erfolgreichen Instanzen wurde die Einigungsstelle eingesetzt. Allerdings setzte diese das Einigungsstellenverfahren aus, nachdem die Arbeitgeberseite die Unzuständigkeit der Einigungsstelle aufgrund fehlenden Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats gerügt hatte. Daraufhin beantragte der Betriebsrat vor dem Amtsgericht Minden die Feststellung, dass ihm ein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung zustehe. Während das Arbeitsgericht Minden ein solches in erster Instanz verneinte, stand das Landesarbeitsgericht Hamm dem Betriebsrat ein solches Recht zu.

Entscheidung

Die Revision der Arbeitgeberinnen hatte vor dem Bundesarbeitsgericht zwar insofern Erfolg, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verneint wurde. Allerdings stellte das Bundesarbeitsgericht mit der Entscheidung gleichzeitig klar, dass Arbeitgeber bereits von Gesetzes wegen zur Einführung einer systematischen Arbeitszeiterfassung verpflichtet seien.

Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG bei der Einführung der elektronischen Zeiterfassung sei unabhängig von der Auslegung des konkreten Mitbestimmungstatbestands zu verneinen. Während in den Vorinstanzen vordergründig über die Rechtsfrage gestritten wurde, ob § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG dem Betriebsrat nicht nur ein Abwehr-, sondern auch ein Initiativrecht bei der Einführung der technischen Arbeitszeiterfassung einräumt, ließ das Bundesarbeitsgericht ein Mitbestimmungsrecht bereits an der Hürde des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz BetrVG scheitern. Demnach kann ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nur bestehen, soweit keine vorrangige gesetzliche oder tarifliche Regelung besteht.

Das Bundesarbeitsgericht sieht eine solche vorrangige gesetzliche Regelung in § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Die Vorschrift müsse im Lichte der Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 (Az.: C-55/18) anhand der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG europarechtskonform ausgelegt werden. Demnach sei der Arbeitgeber dazu verpflichtet, im Zuge der erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes die Arbeitszeiten seiner Arbeitnehmer systematisch zu erfassen. Insbesondere müssten diese europarechtlichen Vorgaben nicht erst durch ein weiteres Gesetz umgesetzt werden, sondern könnten durch europarechtskonforme Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bereits unmittelbare Wirkung entfalten.

Praktische Hinweise

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts hat weitreichende Folgen für Arbeitgeber. Bisher war es unter Arbeitsrechtlern umstritten, ob die Vorgaben des EuGH-Urteils, welche aus der Arbeitszeitrichtlinie (RL 2003/88/EG) hergeleitet wurden, zur Einführung einer systematischen Arbeitszeiterfassung unmittelbar gelten oder ob Arbeitgeber noch eine „Schonfrist“ bis zur nationalen Umsetzung der Arbeitszeitrichtlinie haben. Nunmehr hat das Bundesarbeitsgericht Klarheit – und zwar zum Nachteil der Arbeitgeber – geschaffen. Insbesondere auch mit Blick auf die „Arbeitswelt 4.0“, die flexible Arbeitsmodelle mit sich bringt, stehen Arbeitgeber unvermittelt vor dem Problem, eine den unionsrechtlichen Vorgaben genügende Arbeitszeiterfassung bereitstellen zu müssen. Über die schon bisher nach dem ArbZG notwendige Erfassung von Überstunden sowie Sonn- und Feiertagsarbeit muss der Arbeitgeber für alle seine Arbeitnehmer ein System zur generellen Arbeitszeiterfassung bereitstellen. Dies wird angesichts von immer populärer werdenden Beschäftigungsformen wie Homeoffice, mobiles Arbeiten etc. regelmäßig nur mit einer auf Technik basierenden und nicht ortsgebundenen Arbeitszeiterfassung möglich sein.

Die Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts finden Sie hier.

Die Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 können Sie hier einsehen.

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